
Wenn Sie zu schreiben beginnen, tauchen urplötzlich Stolperfallen auf, mit denen Sie vorab nie gerechnet hätten. Hier lesen Sie, wie Sie vermeiden, sich darin zu verheddern
1. Seien Sie nachsichtig mit Ihrem kreativen Selbst
Betrachten Sie Ihr kreatives Selbst wie einen schüchternen, zweijährigen Winzling mit einem halben Dutzend Geschwistern (Job-Ich, Familien-Ich, Sport-Ich etc.), die alle älter, laut, selbstbewusst und fordernd sind. Und mit einem dominanten inneren Kritiker an der Seite, der Ihnen ohnehin schon seit Jahren die Leviten liest, weil Sie den blöden Spruch des Kollegen mal wieder nicht perfekt gekontert haben oder mindestens noch zwei Kilo abnehmen müssen. Wenn Sie dieses zerbrechliche Wesen namens kreatives Selbst nicht ermutigen oder trösten, weil es mal wieder den perfektionistischen Anforderungen der „Großen“ nicht genügt, Ihr Text vielleicht zu blass und zu leblos ist, dann wird es bei jedem Rüffel, bei jeder Enttäuschung kleiner, farbloser, ausgemergelter. Es wird zaudern und zögern und tausenderlei Gründe erfinden, weshalb heute nicht der Tag zum Schreiben ist. Das Ganze nennt man dann Schreibblockade.
2. Ihr innerer Kritiker ist eine Gehirnfunktion
Der berühmte innere Kritiker ist eine List der Evolution, um unser Überleben zu sichern. Jeder Mensch hat ihn. Er ist eine Gehirnfunktion, die für Logik und Fakten, Definitionen und Abgrenzungen zuständig ist. Der innere Kritiker identifiziert Ihr Gegenüber als Freund oder Feind, rät zur Flucht oder sagt Ihnen, wann Sie einkaufen müssen, weil Ihr Kühlschrank leer ist.
Er ist aber auch diese innere Stimme, die Ihnen zuraunt: „Was ist das schon wieder für ein idiotischer Text?“--“ Du hast nichts Neues zu erzählen.“ -- „Wer soll diesen Unsinn lesen?“
Manche Menschen hören ihn laut, manche leise. Vor allem die Sensiblen hören diese Stimme in Endlosschleifen böse Kommentare absondern.
3. Ihr innerer Kritiker hat beim Schreiben nichts verloren
Erlauben Sie Ihrem inneren Kritiker unter keinen Umständen, bereits die erste Version Ihres Textes zu kontrollieren.
Schreiben Sie diese erste Version vielmehr nach Lust und Laune runter. Kümmern Sie sich nicht um Rechtschreibfehler, nicht um Stil, nicht um Wiederholungen.
Grübeln Sie nicht, schreiben Sie möglichst, ohne abzusetzen. Ihr kreatives Selbst wird vor Freude tanzen und Sie nach einer Weile mit furiosen Einfällen beglücken. 4. Lebendige Texte entstehen als Prozess
Ihre erste Version wird unvollkommen sein und Fehler, Macken und Mängel haben.
Aber sie ist ein Text, mit dem Sie arbeiten können. Dieser Text hat eine Struktur und einen Inhalt.
Er besteht aus Wörtern, und keines dieser Wörter ist in Stein gemeißelt.
So geht es: Wörter, Sätze, Absätze werden erst beim Korrekturvorgang geschliffen und poliert, ausgetauscht, umgestellt oder gestrichen. Zweimal, dreimal. So oft, wie Sie wollen.
Seien Sie sicher:
Auch nach drei Korrekturdurchläufen tritt Ihnen die Polizei noch immer nicht die Tür ein, entert nicht Ihr Arbeitszimmer und schießt Ihnen nicht den Laptop zusammen. Tipp:
Geben Sie sich also die Erlaubnis, dass Ihr erster Entwurf der mieseste Text ist, den Sie jemals geschrieben haben. Und bedenken Sie, dass es zunächst nur um das Füllen der Seite geht.
4. Machen Sie den inneren Kritiker zu Ihrem Lektor
Machen Sie einen Deal mit dieser meckernden Stimme:
Ich mag dich, ich brauche dich, ich achte dich. Aber nicht beim Schreiben. Da hältst du dich raus.
Komm beim Korrigieren raus, schimpfe, nörgle, hinterfrage, gib Hinweise, mach Vorschläge. Sei jetzt mein gnadenloser Lektor.
Das – und nur das – ist dein Job. Da will ich dich hören. Vorher nicht.
Mit ein bisschen Übung klappt das. Glauben Sie mir.
5. Spielen Sie, träumen Sie
Ihr kreatives Selbst ist ebenfalls eine angeborene Gehirnfunktion.
Sie ist zuständig für das Spielerische, für Ihre fünf Sinne, für Spontanität, für Freude. Für Vergleiche, Intuition und Fantasie. Mithin für das sogenannte „bildhafte Denken“.
Dieses „bildhafte Denken“ aber brauchen Sie zum Schreiben wie die Luft zum Atmen.
Es sind allerdings genau jene Gehirnfunktionen, die Sie in Ihrem hektischen Alltagsleben zu selten benutzen, weshab Ihr Künstlerjunges jahrelang etwas verloren in der hintersten Ecke Ihres Gehirns hockte und schmollte.
Jetzt muss es raus, sich lebendig und neugierig fühlen - und erst mal trainieren.
Tipp: Bevor Sie sich also weiter intensiv mit Schreibratgebern beschäftigen und damit, wie Sie plotten, Figuren entwerfen oder einen Spannungsbogen bauen, müssen Sie wieder lernen, Ihrer Fantasie Raum zu geben und zu träumen. Von Orten, Menschen, Geschichten. Von Situationen, Beziehungen, Konflikten.
7. Eröffnen Sie Ihr privates „Kino im Kopf“
Haben Sie Spaß daran, in Ihrem Kopf Ihre privaten Filmszenarien zu entwickeln.
Mit Figuren, die ihren eigenen Ton finden, mit Landschaften, die ihre eigenen Farben haben. Mit Storys, die uns alle vom Hocker reißen, weil wir sie so noch nie gesehen, gelesen oder gehört haben.
Tipp:
Das „Kino im Kopf“ dürfen Sie getrost wörtlich nehmen. Lassen Sie Ihre Geschichte vor Ihrem inneren Auge ohne jede Zensur und ohne jede Bewertung ablaufen. Riechen Sie dabei, schmecken Sie, fühlen Sie. Lassen Sie die absurdesten Vergleiche durch ihren Kopf rauschen. Das ist Kreativität.
Erst wenn Sie das können, werden Sie auch so schreiben, wie die Leser es lieben: szenisch, spannend, sinnlich. Mithin lebendig.
Allein darum geht es beim Schreiben von Geschichten.
Lassen Sie also Ihrem kreativen Selbst mit seiner Fantasie allen Raum, den es braucht – Ihre Texte werden es Ihnen danken.
8. Vergleichen Sie sich nie mit anderen Autoren
Es ist toll, wenn andere Autoren Sie mit großartigen Figuren berühren, mit originellen Sprachbildern überraschen und Ihnen eine umwerfende Story präsentieren.
Nur ist es kontraproduktiv, das eigene Schreiben daran zu messen.
Autoren, die Sie bewundern und denen Sie nacheifern möchten, sind Ihnen einfach nur voraus. Das ist alles.
Tipp:
Statt deprimiert zu sein, sollten Sie sich fragen, warum Sie fasziniert sind? Was genau an der Figur Sie so fesselt, dass Sie das Buch nicht aus der Hand legen? Was geschieht in der Szene, die Sie zu Tränen rührt? Was lässt Sie mitbangen oder was entzückt Sie?
9. Lesen Sie viel und mit einem Fragenkatalog
Wie wollen Sie die Kniffe Ihrer Vorbilder in „Aktion“ lernen, wenn Sie nicht lesen?
Was „Zeigen und nicht erzählen“ bedeutet, erklärt Ihnen heute jeder Schreibratgeber.
Wie aber liest sich ein Roman, der das perfekt inszeniert?
Lesen Sie die Amerikaner. Keiner hat es so perfektioniert wie Donna Tartt (z.B. „Distelfink“) oder Stephen King, Harlan Coben oder Karen Slaughter in ihren Krimis – erst durchs Lesen werden Sie eine Menge mehr über Tricks und Kniffe Ihrer Lieblingsautoren erfahren.
Und wenn Ihnen ein Roman nicht gefällt? Schon Stephen King oder Sol Stein notierten, dass sie durch schlechte Romane oder Theaterstücke gelernt haben. Was? Wie man es nicht macht.
Tipp:
Legen Sie sich vor dem Lesen einen Fragenkatalog zurecht:
Weshalb berührt mich die Figur?
Weshalb steige ich aus der Landschaftsbeschreibung aus?
Welche Verben werden benutzt?
Welche scheinen ein Tabu zu sein?
Wie wird das Äußere beschrieben?
Wie ein Absatz aufgebaut, wie eine Szene?
Wie sind Kapitel strukturiert?
Was läuft als Subtext bei den Dialogen mit?
10. Seien Sie zurückhaltend
Erzählen Sie nicht gleich jedem, dass Sie jetzt ein Buch schreiben und es nur eine Frage der Zeit ist, bis Sie die Bestsellerliste stürmen. Gleichgültige oder böse Kommentare überfordern Ihr zartes kreatives Selbst, das sich doch erst in aller Ruhe und mit all Ihrer Zuwendung und Liebe entfalten möchte.
Selbst erfolgreiche Schriftsteller berichten immer mal, dass sie am Anfang ihrer Karriere bei Freunden und Familienmitgliedern statt Ermunterung und Beifall hämische Kommentare, Unverständnis und hochgezogene Brauen geerntet haben.
Ihr künstlerisches Selbst wäre nicht das Erste, das dann erschrocken, verletzt und entmutigt aufgibt.
Wie etwa das einer Professorin, die einen Roman in einem schwedischen Verlag veröffentlichte und deren Freundin im Flur nebenbei fallenließ, dass ihr das kein zweites Mal gelingen würde. Ich hatte die Autorin in meinem Kurs. Zehn Jahre lang hatte sie nicht mehr gewagt zu schreiben.
11. Ihr Gehirn arbeitet auf Autopilot
Es gibt so etwas wie eine Übersättigung des kreativen Selbst. Wenn Sie zu oft erzählen, wie sich die Handlung entfaltet, wie Ihr Held Hindernisse überwindet oder seine Liebste gewinnt, langweilt sich Ihr schlaues Gehirn irgendwann und denkt: Prima, Aufgabe erledigt, Vorhang zu, nächstes Projekt.
Sprechen Sie auch deshalb nicht bei jeder Gelegenheit mit wildfremden Menschen auf Partys über Story, Figuren, Wendungen.
Bleiben Sie besser ein Geheimniskrämer.
Es ist klüger und professioneller, mit nur wenigen Vertrauten über Ihr neues Romanprojekt zu sprechen. Sie wären nicht der Erste, der bei zu viel Plauderei keine Lust mehr hat, an seinem Manuskript weiterzuschreiben.
12. Seine Kreativität zu entfalten ist ein Prozess
Genießen Sie den Prozess, etwas Neues zu erschaffen. Stecken Sie Ihre Ziele dabei nicht zu hoch und denken Sie zunächst nicht an Agenten und Verlage.
Zu hohe Ansprüche üben immens viel Druck aus. Druck aber macht klein, verkrampft und raubt Ihnen die Unbedarftheit, die Ihre Kreativität braucht.
Druck bedeutet nämlich, dass Sie instinktiv alles bewerten, was Sie gerade schreiben. Dabei fällen Sie Urteile über etwas, das erst im Werden begriffen ist und reifen will wie der Rest von Ihnen es schon immer tat.
Sie schlitterten ja auch nicht von jetzt auf gleich von der Geburt in die Pubertät und dann nahtlos vor den Traualtar.
Mit zu hohen Ansprüchen beurteilen Sie Ihr Schreiben viel zu kritisch und nehmen sich so die Unbedarftheit, die Freude, den Spaß. Und die Neugierde darauf, was alles in Ihnen an Geschichten und unentdecktem Potential schlummert.
13. Regelmäßiges Rendezvous mit dem Künstler-Ich
Alle Autoren nehmen ihr künstlerisches Selbst ernst und geben ihm regelmäßig und zu bestimmten Zeiten eine Stimme. Ihr Schreiben professionalisiert sich damit schneller, als viele zunächst glauben.
Machen Sie sich dazu am besten einen Wochenplan und legen Sie fest, dass sie regelmäßig und zu einer bestimmten Zeit an Ihrem Schreibtisch erscheinen.
Die Amerikanerin Julia Cameron empfiehlt wie viele andere Schreibcoachs eine halbe Stunde täglich. Wenn Sie das nicht hinbekommen, probieren Sie es mit einer Viertelstunde.
Passen Sie die Schreibzeit an, wenn es nicht gut klappt. Regelmäßiges Schreiben hilft ihnen auch dann, wenn Sie nicht an Ihrem Roman arbeiten. Ihr Stil wird besser, Ihr Selbstvertrauen wächst.
13. Ideen sind flüchtig – halten Sie sie fest
Kaufen Sie sich ein Notizbuch oder benutzen Sie bei jeder Idee die Diktierfunktion Ihres Handys.
Tragen Sie es immer bei sich und legen Sie es auch abends auf Ihrem Nachttisch bereit. Einfälle kommen immer dann, wenn Sie nicht damit rechnen.
Meine kommen besonders gern beim Duschen, Radfahren, Laufen oder beim Aufwachen und manchmal mitten in der Nacht, wenn ich aus einem Traum hochschrecke. Erfahrungsgemäß verflüchtigen sich die besten Ideen schnell wieder - vor allem die aus der Nacht.
14. Schreibrituale berühmter Autoren
Entwickeln Sie Ihre persönlichen Schreibrituale und Schreibtricks, um Ihr kreatives Selbst täglich aufs Neue zu bezirzen:
Egal, wie verkatert Hemingway war: Er stieg aus dem Bett, warf sich den Morgenmantel über und begann am Stehpult - gleich neben dem Bett – zu arbeiten.
Elizabeth George macht gesundheitsbewusst jeden Morgen dreißig Minuten Frühsport, schreibt eine Viertelstunde Tagebuch und liest eine Viertelstunde in einem Klassiker, um sich inspirieren zu lassen.
Franz Kafka turnte erst einmal jeden Morgen am offenen Fenster.
Stephen Kings Schreibtisch-Zeit beginnt um 8.30 Uhr. Er legt Heavy Metal auf und dann los bis zirka 14. 00 Uhr. Danach gönnt er sich einen zweistündigen Spaziergang.
Harlan Coben fuhr seine Kinder – so lange sie zur Schule gingen – jeden Wochentag zur Schule und setzte sich dann von 9.00 bis 13.00 Uhr ins Café in der Nähe, und schrieb – na was wohl? – seine Bestseller.
Gillian Flynn geht jeden Morgen gegen halb neun ins Schreibasyl. Das liegt im Keller und hilft ihr, sich abzuschirmen und aufs Schreiben einzustimmen – wenn sie nicht gerade ein Computerspiel anwirft, statt zu arbeiten, wie sie selbstironisch schreibt.
Allen gemeinsam sind ihre Rituale. Sie helfen Autoren, regelmäßig zu schreiben, sich regelmäßig inspirieren zu lassen und niemals das Ziel aus den Augen zu verlieren: Das Beste in sich heraufzubeschwören, das möglich ist.
Bleiben Sie locker
Jede geträumte Geschichte öffnet eine weitere Pforte zu Ihrer Fantasie.
Jedes Wort, das Sie schreiben, macht Sie zu einem besseren Schriftsteller.
Jeder Text wird durch eine gute Bearbeitung besser.
Jeder Autor findet sein eigenes Publikum und jede Geschichte ist es wert, erzählt zu werden.
Vor allem aber wird Ihr Schreiben Ihre Seele zum Singen bringen – und darum geht es beim Schreiben wie bei jedem kreativen Akt.