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Die Kunst, Absätze zu schreiben


Im Netz schwirren jede Menge Tipps für Absätze herum: Die meisten taugen nichts. Aus dem journalistischen Alltag hier ein paar Tricks, die Ihr Schreiben erheblich erleichtern

Schreib leserfreundlich. Diese Prämisse blinkt wie eine Alarmanlage in den Köpfen fast aller Journalisten. Der Leser muss es leicht haben und den Inhalt wie ein leckeres Biskuit genießen. Er muss sich unterhalten fühlen und einen Nutzen aus den Texten ziehen.
Journalistische Texte folgen deshalb formal einfachen, doch fundamentalen Regeln, die Sie auf jede Textart übertragen können, egal ob Blog, wissenschaftliche Abhandlung oder Roman.
1. Ein Gedanke – ein Absatz
Was meint das?
Jeder Absatz folgt nur einem einzigen Kerngedanken. Jeder neue Kerngedanke erhält einen neuen Absatz wie hier im Beispiel:
Bei dem Zusammenstoß wurde Alperen T. selbst schwerverletzt. Einen Arm kann er seitdem nicht mehr bewegen, eine Transplantation von Nervengebwebe soll helfen. Auch ein Bein wurde verletzt.
Ob er jemals wieder Motorrad fahren wird, ist ungewiss. Auf Instagram postete er ein Foto aus dem Krankenhaus von dem verbundenen Bein.
Fans und Kritiker debattieren nach seinem Post, ob es in Ordnung sei, dem Motorradraser gute Besserung zu wünschen...
(Spiegel, 47/ 2016 „Jagd nach dem Kick“)
2. Poleposition für den Kerngedanken
In der Regel formulieren Sie den Kerngedanken im ersten Satz, wie ich es hier tue. Damit wecken Sie die Neugierde des Lesers und steuern seine Erwartungen in die von Ihnen bestimmte Richtung. Der Kerngedanke sollte zwingend und überzeugend sein. Er ist Ihr roter Faden für die Argumentation innerhalb des Absatzes:
Dass Trump Worten kaum Bedeutung über den Moment hinaus zuweist und auch keine Probleme mit Lügen hat, ist bekannt. Es war ein essenzieller Bestandteil seines Wahlkampfs. "Die Medien nehmen ihn wörtlich, aber nicht ernst. Seine Anhänger nehmen ihn ernst, aber nicht wörtlich": Diese Erkenntnis gilt inzwischen als treffende Beschreibung seines Aufstiegs.
(sueddeutsche.de, 23.11.2016)
3. Die logische Struktur
Die dem Kerngedanken folgenden Sätze erläutern und veranschaulichen einzig diesen Hauptgedanken:
Nein, die US-Wahl ist noch nicht entschieden. Zumindest offiziell nicht. Und nicht nur, dass zwei Wochen nach dem historischen Wahltag das Endergebnis in mehreren Staaten noch immer nicht feststeht. Dieses wird nun offenbar auch noch in drei entscheidenden Swing States angezweifelt.
(welt.de, 23.11. 2016)
Innerhalb des Absatzes baut jeder Satz logisch auf dem vorherigen auf. Tut er das nicht, muss der Schreiber an seiner Argumentation und an seinem Stil arbeiten.
4. Storytelling für dramatische Effekte
Um Ihr Thema emotional zu verdichten und anschaulich zu machen, können Sie zwischen kurzen Passagen Anekdoten oder kurze Geschichten als Absatz einfügen.
In dem Artikelauszug unten beschreibt der Autor, wie am 11.9.2001 eine Gruppe Männer nur mit einem Fenster-Abzieher versucht, einem steckengebliebenen Fahrstuhl im World Trade Center zu entkommen. Sieben Zeilen genügen hier, um die ganze Ungeheuerlichkeit der Terroranschläge auf das WTC sichtbar und fühlbar zu machen:
Sie wussten nicht, dass Ihr Leben von einem so simplen Werkzeug abhängen würde.
Nach zehn Minuten verkündete eine Stimme eine lapidare Botschaft: Es hatte eine Explosion gegeben. Dann verstummte die Sprechanlage. Rauch sickerte in den Fahrstuhl. Einer der Männer verfluchte Wolkenkratzer. Mr. Phoenix, der größte der Passagiere, ein Ingenieur der Hafenbehörde, streckte sich auf der Suche nach einer Deckenluke. Andere quetschten mit dem Holzgriff von Mr. Demzcurs Abzieher die Aufzugtüren auseinander.
Es gab keinen Ausweg.
(Artikel aus der New York Times zum Anschlag auf das WTC am 11.9.2001, zitiert nach R.P. Clark)
Haben Sie Ihren Kerngedanken schlüssig ausgeführt, beenden Sie den Absatz.
Den nächsten Absatz beginnen Sie mit einem neuen Kerngedanken.
4. Absätze mit Schlusspointen
Wenn Sie Ihren Leser überraschen wollen, beenden Sie den einen oder anderen Absatz mit einer wohl überlegten Pointe. Sie sorgt für Aufmerksamkeit, macht Ihre Texte spannend und unterhaltsam.
In Romanen sind solche Überraschungseffekte z.B. ein unschlagbares Mittel für den Spannungsaufbau. Doch übertreiben Sie es nicht. Es wird sonst schnell zur Masche und der Effekt verpufft.
Arbeiten Sie mit einem Überraschungseffekt, können Sie Ihre Ein-Satz-Pointe auch durch einen gesonderten Absatz wie Hemingway hervorheben:
Die beiden Männer auf den Angelsitzen unterhielten sich. Sie hatten die Angelruten hochgenommen und einer von ihnen betrachtete ihn (Harry – die Hauptfigur) durch einen Feldstecher. Sie waren zu weit draußen; er konnte nicht hören, was sie sagten.
Es hätte ihm auch nichts genutzt, selbst wenn er es gehört hätte.
(Hemingway, Haben und Nichthaben, Anmerkung: Nun ja, für Harry geht die Story nicht gut aus)
5. Übergänge zwischen Absätzen
Gestalten Sie den Übergang zwischen Absätzen möglichst geschmeidig. Wenn alle Absätze logisch aufeinanderfolgen, ergibt sich aus dem Themenablauf meist von selbst ein softer Übergang: Trainieren Sie dennoch ein Gespür dafür, denn harte Übergänge machen Ihren Text schnell holprig – und das verschreckt Leser.
Hemingway hat es sich hier mit dem Übergang besonders leicht gemacht:
Er trat über Alberts Leiche, als er nach vorn ging. Als er ans Steuerrad kam, blickte er auf den Kompass. Der Junge war ungefähr fünfundzwanzig Grad abgekommen und die Kompassnadel schwang. Das ist keine Seemann, dachte Harry. Das lässt mir mehr Zeit. Sieh mal das Kielwasser an.
Das Kielwasser lief in zwei schaumigen Kurven in der Richtung, wo jetzt achteraus der Leuchtturm braun, kegelförmig und dünn vergittert am Horizont zu sehen war.
(Hemingway, Haben und Nichthaben)
6. Der Text als logische Gedankenkette
Geschmeidige Übergänge in Absätzen ergeben sich zumeist schon durch eine logische Struktur des gesamten Textes.
Gliedern Sie Ihren Text deshalb zunächst nach Kerngedanken, die das Thema umkreisen, auffächern, Ihre Thesen beweisen, mit Beispielen und Geschichten unterfüttern oder gegebenenfalls ad absurdum führen.
Bringen Sie diese Kerngedanken in eine logische Abfolge. Die kann zeitlich sein oder kausal einem Ursache-Wirkungs-Prinzip folgen.
Wenn Ihr Text seiner inneren Logik folgt, braucht der Leser nur noch jeweils den ersten Satz eines neuen Absatzes zu lesen – und er weiß trotzdem genau, worum es geht und wo er gerade ist.
Lesen Sie ein paar beliebige Artikel in anspruchsvollen Zeitschriften. Die meisten Autoren haben es dort zur Kunst erhoben. Am Ende dieses Artikels finden Sie einen Spiegel-Auszug aus „Am Ende der Macht“, der nur aus dem ersten Satz der jeweiligen Absätze besteht. Obwohl zirka 80 Prozent des Textes fehlen, verstehen Sie trotzdem genau, worum es geht.
7. Länge von Absätzen in Blogs, auf der Website, in Mails oder Newslettern
Im Internet gelten besondere Regeln für die Absatzlänge. Im Normalfall schwankt sie zwischen 3 und 8 Zeilen.
Flimmern lange Absätze über den Bildschirm, ermüden sie das Auge nicht nur, sondern senden auch beunruhigende Nachrichten ans Gehirn: Das sind zu viele Informationen, das ist eine Bleiwüste, das strengt mich an – das will ich keinesfalls lesen.
Über das Auge signalisieren kurze Absätze:
  • klare Struktur

  • klare Argumentationskette

  • schnelle Informationen

  • leicht verständliche Informationen

  • der Schreiber nimmt den Leser ernst

  • der Schreiber missbraucht die Zeit des Lesers nicht

  • der Schreiber hat sich Gedanken gemacht

Das Ganze nennt sich heute Eye Tracking und hat noch ein paar andere Facetten, doch für Absätze gilt:
  • ein Absatz sorgt für eine weiße Fläche auf dem Bildschirm oder auf der Seite

  • die weiße Fläche signalisiert dem Gehirn eine Verschnaufpause – und nichts liebt es mehr

  • der Absatz sorgt dafür, dass der Leser seine Informationen verdauen kann, bevor er weiter liest

Die Länge der Absätze in Romanen, Erzählungen, Reportagen, Essays etc. folgt ebenfalls der Regel: ein Gedanke – ein Absatz. Allein in der Länge sind Absätze in diesen Genres wesentlich flexibler und haben zum Teil noch andere Aufgaben.
Und nein, wenn Autoren die Regeln nicht benutzen, bedeutet es nicht, dass sie nicht sinnvoll sind. Es bedeutet lediglich, dass die Autoren sie nicht kennen.
„Am Ende der Macht“
(Über Barack Obamas letzten Deutschlandbesuch: Spiegel 47/ 2016 S.10)
Obgleich Sie im Folgenden nur jeweils den ersten Satz des jeweiligen Absatzes lesen – wobei der Gesamttext zirka 80 Prozent länger ist –, verstehen Sie genau, worum es in dem Artikel geht und wo der Autor gerade ist. Alle weiteren Sätze in den jeweiligen Absätzen des Spiegel-Artikels erläutern immer nur den Kerngedanken, der im ersten Satz formuliert wird.
Er sei verliebt in Berlin, sagt er (Obama), was für eine Stadt.
Beim nächsten Mal komme er verkleidet.
Barack Obama in Berlin, das waren, das sind viele Botschaften zugleich.
Er wollte die Kanzlerin stützen, das war in jeder Minute des Besuchs spürbar.
Nein, der wesentliche Erfolg seiner Präsidentschaft, das sagt Obama im Gespräch mit ARD und Spiegel, sei, dass die Weltwirtschaft 2008 nicht in die Katastrophe gerutscht sei.
Damals, im November 2008, es war ein grauer, kühler Abend in Chicago, weinte das Publikum.
Er fing dann zaghaft an.
Aber er wurde entschlossener, als er wiedergewählt war und wusste, dass mit dem Beginn der zweiten vier Jahre zugleich der Countdown lief.
Als 2015 der nächste Wahlkampf in den USA begonnen hatte, eineinhalb Jahre her, da wurde Obama gefragt, ob er gern noch einmal angetreten wäre, um sein Projekt zu beenden.
Ob er wirklich glaube, die Leute ein drittes Mal für sich begeistern zu können?
Wieder Ja, diesmal ohne Zögern.
Denn er sieht sich vermutlich als den besseren Präsidenten, besser als Trump, das sowieso, aber er hält sich auch für besser, als es Hillary Clinton gewesen wäre.
Clever aufgebaut, der Text, oder?
Achten Sie zukünftig bei Ihrer Lieblingslektüre mal auf die ersten Sätze in Absätzen, auf den Aufbau der Absätze und auf ihre Abfolge. Sie werden erstaunt sein, wie logisch gute Texte strukturiert sind.
Und nutzen Sie dieses Wissen für Ihre Blogs, Ihre Mails, Ihre Newsletter, Ihre Website.
Viel Erfolg.
Ihre
Mika Bechtheim

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Mika Bechtheim

Autorin

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