Der Roman-Anfang ist das Entree für den Leser. Um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, müssen Sie schnell sein. Schaffen Sie es nicht, haben Sie verspielt

1. Was hat Ihre Leseprobe mit acht Sekunden zu tun ?
Acht Sekunden beträgt die Aufmerksamkeitsspanne des Durchschnittslesers. Länger kann er sich nicht konzentrieren. Microsofts Untersuchung aus dem Jahr 2013 (mit 2000 kanadischen Probanden) zeigt, dass unsere Aufmerksamkeitsspanne inzwischen unter der eines Goldfischs liegt: der kann sich immerhin neun Sekunden konzentrieren.
Was heißt das für Sie? In diesen ersten acht Sekunden müssen Sie den Leser einfangen, damit er bereit ist, die Leseprobe weiterzulesen. Wenn das nicht klappt, ist er weg.
2. Was bedeuten acht Sekunden für Ihren Roman-Anfang?
In drei Sekunden liest der Durchschnittsleser 12 Silben oder 6 bis 9 Wörter. Das heißt:
In den ersten 18 bis 27 Wörtern stecken also Ihre Chancen, den Leser überhaupt erst einmal von Ihrem Talent und Ihrer Story zu überzeugen.
Allerdings sollten Selfpublisher bedenken, dass sich die Lesegeschwindigkeit bei E-Books noch einmal um ein Viertel verlangsamt. Da kommen Sie also nur noch auf circa 12 bis 20 Wörter.
So technisch geht es beim Schreiben zu? In dem Fall ja, und es ist einer der Gründe, weshalb Schreibkoryphäen wie Sol Stein "dem ersten Satz, dem ersten Absatz, der ersten Seite" ein ganzes Kapitel widmen.
3. Die Macht der Fragen
Wie können Sie den Leser in der Kürze von Ihrem Buch überzeugen?
Banale Antwort: Sie müssen den Leser neugierig auf Mehr machen.
Wie geht das ?
Neugierig sind Menschen nur dann, wenn etwas in ihnen ein Gefühl auslöst. Nicht irgendeins, sondern Erregung: eine gewisse innere Anspannung und Nervosität.
Wie löst man Erregung am schnellsten aus?
Werfen Sie Fragen auf. Das tun Roman-Anfänge zwar fast immer automatisch. Aber: Tun Sie es bewusst. Viele Autoren werfen Fragen schon im ersten Satz sehr bewusst und kalkuliert auf.
Hier ein paar Beispiele für erste Sätze:
Wie froh bin ich, dass ich weg bin.
Die Leiden des jungen Werther, Goethe, 1774
Wer ging weg? Weshalb ging er weg? Von wo ging er weg? Wohin ging er?
Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt.
Der Untertan, Heinrich Mann, 1914
Vor was fürchtete er sich? Fürchtet er sich immer noch? Ist er immer noch weich? Und wenn ja, was hat das für Konsequenzen?
Amerigo Bonasera saß im New Yorker Criminal Court Nummer drei und wartete auf die Gerechtigkeit; auf Rache an den Männern, die seine Tochter so grausam misshandelt hatten, die sie zu entehren versucht hatten.
Der Pate, 1969, Mario Puzo
Erhält er vor Gericht Gerechtigkeit? Bekommt er seine Rache? Und was passiert, wenn nicht? Wie geht es seiner misshandelten Tochter, was macht sie, wo ist sie?
Meine Entscheidung, Anwalt zu werden, stand unwiderruflich fest, als ich begriff, dass mein Vater Anwälte verabscheute.
Der Regenmacher,1996, John Grisham
Weshalb verabscheut der Vater Anwälte? Was hatten und haben die zwei für ein Verhältnis?
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Wie wäre es mit einem Teekessel? Wie wäre es, wenn die Tülle beim Austreten des Wasserdampfs wie ein Mund auf- und zuklappte und hübsche Melodien pfiffe, Shakespeare aufsagte oder einfach mit mir ablachte.
Extrem laut und unglaublich nah, 2005, Joanthan Safran Foer
Wer will einen Teekessel erfinden, der einerseits Shakespeare zitiert und andererseits mit ihm - im Jugendjargon - "ablacht"? Wie alt ist der Ich-Erzähler und warum reizt ihn ein sprechender, "ablachender" Kessel?
Ein paar Jahre später fand sich Joe Coughlin auf einem Schlepper im Golf von Mexiko wieder. Seine Füße steckten in einem Block Zement.
In der Nacht, 2012, Dennis Lehane
Wer ist Joe Coughlin? Wieso sind seine Füße einbetoniert? Wer hat's gemacht und warum? Was geschah die Jahre zuvor? Wie kam er auf den Schlepper? Kann er sich befreien?
Da liegt ein Kleiderhaufen an den Gleisen. Hellblauer Stoff - vielleicht ein Hemd -, verknäuelt mit etwas schmutzig Weißem.
Girl on the Train, 2015, Paula Hawkins
Weshalb liegt der Kleiderhaufen dort? Wer hat ihn abgelegt und warum? Wo ist derjenige, dem die Kleidung gehört? Was geschah mit ihm? Was macht die Erzählerin mit ihrem Wissen?
4. Spannungsbogen und Pointe im ersten Absatz
Beginne mit einem Vulkanausbruch und steigere dich sich stetig, lautet eine nicht ganz ernst gemeinter und doch profunder Rat zum Spannungsaufbau.
Wenn Sie die ersten acht Sekunden gemeistert haben, brauchen Sie nun einen ersten Absatz, der die Neugierde des Lesers weiter entfacht und seine Erregung steigert.
Für Absätze im Roman gilt gemeinhin:
Das Wichtigste zuerst.
Der Rest erklärt, umkreist, verdeutlicht es.
Zieh Satz für Satz die Spannung an.
Für die höheren Schreibsemester gilt außerdem:
Wenn es sich anbietet, gib dem Absatz einen Twist, einen Dreh.
Schreib möglichst oft auf eine Pointe hin.
UND: Schreib den ersten Absatz auf eine Pointe hin.
Wie das im ersten Absatz aussehen kann, lesen Sie hier:
Es war gegen elf Uhr morgens, Mitte Oktober, ein Tag ohne Sonne und mit klarer Sicht auf die Vorberge, was klatschkalten Regen verhieß. Ich trug meinen kobaltblauen Anzug mit dunkelblauem Hemd, Schlips und Brusttaschentuch, schwarze Sportschuhe und schwarze Wollsocken mit dunkelblauem Muster. Ich war scharf rasiert, sauber und nüchtern - egal nun, ob's einer merkte. Ich war haargenau das Bild vom gut gekleideten Privatdetektiv. Ich wurde von vier Millionen Dollar erwartet.
Raymond Chandler, Der große Schlaf
Spannungsaufbau: 1. Gegenwart: Normaler Tag und später Regen? Sonst nichts? Oh, doch: Er ist geschäftsmäßig elegant gekleidet. Okay. 2. Aber er ist auch noch nüchtern und rasiert. Wie bitte? Ist er sonst betrunken, unrasiert, ungepflegt? 3. Er ist das "Bild" eines Privatdetektivs: Was ist er wirklich? 4. Pointe und Twist: Zukunft statt Gegenwart: Ihn erwarten 4 Millionen Dollar? Na, holla. Wer und was verbirgt sich dahinter? Und wer ist dieser selbstironische, stilsichere Kerl und Ich-Erzähler?
Mein Vater hat mich gebeten, die vierte Ecke im Joy Luck Club zu übernehmen. Es ist der Platz meiner Mutter am Mah-Jongg-Tisch, der leer geblieben ist, seit sie vor zwei Monaten starb. Mein Vater glaubt, dass ihre eigenen Gedanken sie getötet haben.
Amy Tan: Töchter des Himmels
Spannungsaufbau: 1. Fakten: Die Ich-Erzählerin vertritt jemanden beim Spielen. Fein. 2. Es ist ihre Mutter. Wieso kann die nicht? 3. Sie ist vor kurzem gestorben. Ach so, wie traurig. 4. Pointe und Twist: Vermutung statt Fakten: Ihr Vater glaubt, dass sie ihre eigenen Gedanken getötet haben. Huch?! Was ist das denn und wie geht das? Und glaubt die Ich-Erzählerin das auch?
Die Abteilung für Verhaltensforschung, die beim FBI für Serienmorde zuständig ist, befindet sich, halb unter der Erde, im untersten Geschoss der Academy in Quantico. Nach einem raschen Fußmarsch von Hogan's Alley auf dem Schießstand kam Clarence Starling mit hochrotem Kopf dort an. Weil sie sich auf dem Schießstand bei einer Festnahmeübung mit Feindbeschuss auf den Boden geworfen hatte, hatte sie Grashalme im Haar und Grasflecken auf ihrer FBI-Academy-Weste.
Thomas Harris, Das Schweigen der Lämmer
Spannungsaufbau: 1. Clarence ist zum FBI, Abteilung Serienmorde, unterwegs. Okay. 2. Sie hat es eilig. Offensichtlich hat sie einen offiziellen Termin und will pünktlich sein. 3. Sie wird da ziemlich derangiert auftauchen. Das wird einen tollen Eindruck machen. 3. Pointe: Sie trägt eine "Academy"-Weste? Was? Eine Auszubildende - engagiert, aber etwas schlampig - hat einen Termin bei den FBI-Profis für Serienmorde? Das will ich jetzt genau wissen.
Wenn er im Dunkel und in der Kälte der Nacht im Wald erwachte, streckte er den Arm aus, um das Kind zu berühren, das neben ihm schlief. Nächte, deren Dunkel alle Dunkelheit überstieg, und jeder Tag grauer als der vorangegangene. Wie das Wachstum eines kalten Glaukoms, das die Welt verdüsterte. Mit jedem kostbaren Atemzug hob und senkte sich weich seine Hand. Er schob die Plastikplane weg, richtete sich zwischen den stinkenden Fell- und Wolldecken auf und hielt Richtung Osten nach einer Spur von Licht Ausschau.
Die Straße, Cormac McCarthy
Spannungsaufbau: 1. Jemand schläft in der Kälte im Wald. Okay. 2. Mit einem Kind. Oh. 3. Jede Nacht wird es dunkler, jeden Tag grauer. Die Ärmsten. 4. Die Düsternis am Tag wächst wie ein Krebsgeschwür. Na, das kann ja heiter werden: ohne Licht keine Pflanzen und damit weder Tiere zum Essen noch Sauerstoff. Ohne Licht auch Kälte. 5. "Kostbare Atemzüge" schon jetzt? Mit anderen Worten: Der bewegt sich mit dem Kind durch eine potentielle Todeszone? 6. Er hat nur eine Plane und Decken gegen die Kälte? Auch das noch. 7. Twist und Pointe: Im Osten sucht er eine "Spur" von Licht? Es gibt Hoffnung. Aber bis dahin ist es weit. Wie will er das mit dem Kind durch diese potentielle Todeszone schaffen?
Was sich hier so schnell liest, sind Romanauszüge, die neben der Erregung alles liefern, was man von einem klassischen Anfang ohnehin erwartet:
originelle Figuren und eine ungewöhnliche, damit interessante Konstellation
einen Handlungsrahmen
einen konfliktgeladenen Hintergrund
vor allem aber auch Figuren, die bereits hier etwas wollen:
Chandler: einen guten Eindruck bei den "4 Millionen Dollar" machen
Amy Tan: die Rolle der Mutter übernehmen
Thomas Harris: unbedingt den Termin wahrnehmen
McCarthy: das Kind nach Osten bringen
Damit haben die zitierten Autoren auf schnelle und "einfache" Weise ein paar Schlüsselaspekte für einen gelungenen Anfang erfüllt.
Was Sie für die ersten Seiten übrigens noch brauchen? Empathie. Wie das geht, lesen Sie im nächsten Artikel.
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