Was ist Empathie und wie erzeugen Autoren sie? 7 Tipps, wie Figuren Ihre Leser mitten ins Herz treffen

In Amazon-Rezensionen liest man mitunter, jemand sei mit den Figuren nicht „warm geworden“, habe „keine Bindung zu den Protagonisten“ aufgebaut und Ähnliches.
Doch dann gibt es Romane wie Stephen Kings „Carrie“. Gleich in der ersten Schulszene bekommt Carrie in der Mädchendusche ihre erste Regel und glaubt nun panikgeschüttelt, sie würde verbluten, während die anderen sie gnadenlos verhöhnen und kreischend mit Tampons nach ihr werfen. Und obgleich Carrie im Roman (im Gegensatz zu Sissy Spaceks Film-Carrie) leicht übergewichtig, picklig und ungelenk ist, möchte man an ihrer Stelle vor Scham im Erdboden versinken.
Warum tun wir das? Was lässt uns so empfinden, als seien wir an Carries Stelle?
Oder weshalb treibt es uns die Tränen in die Augen, wenn Leonardo DiCaprio in „Titanic“ im Eismeer versinkt?
Weshalb schlagen Frauen manchmal die Hände vors Gesicht, wenn es im Kinofilm brenzlig wird.
Weshalb weinte mein Sohn den Rest des Films durch - und noch Stunden später -, als Bambis Mutter erschossen wurde? Und weshalb konnte ich ihn weder ablenken noch beruhigen?
Das alles ist Ausdruck von Empathie, und Empathie ist eines der wirkungsvollsten handwerklichen Mittel, um Leser und Zuschauer emotional an eine Figur zu binden.
1. Was ist Empathie und was hat sie mit Ihrem Roman zu tun?
Empathie ist eine Form der Resonanz auf unterschiedliche Gefühle unseres Gegenübers, bei der wir sein Mitleid, seine Trauer, seinen Schmerz, aber auch sein Glück, seine Hoffnung, seinen Mut als Teil unserer eigenen Empfindungen durchleben.
Im Alltag erleben Sie das,
wenn Sie etwa in einem Gespräch automatisch die Sitzposition Ihres Gegenübers einnehmen,
die Hände falten, wenn er sie faltet,
lächeln, wenn er lächelt
wenn sich Ihr Freund beim Gemüseschnippeln schneidet und Sie schmerzhaft das Gesicht verziehen, weil sein Schmerz Ihren eigenen Finger wie ein Messer durchschneidet.
Verantwortlich für diese adäquaten Empfindungen sind die sogenannten Spiegelneuronen, also bestimmte Nervenzellen.
Was passiert dabei?
Über unsere Spiegelneuronen werden wir mit dem Gefühl des anderen "infiziert". Diese Nervenzellen reagieren also nicht nur, wenn wir selbst Lust, Schmerz oder Freude empfinden, sondern sie werden auch dann aktiv, wenn wir diese Empfindungen bei jemand anderem beobachten.
Das Ganze nennt sich „empathischer Stress“, ist also ein Erregungszustand, in den uns die Beobachtung versetzt. Wie jeder Stress kann er sowohl positiv als auch negativ besetzt sein.
Wie Sie beim Leser Erregung außerdem über
aufgeworfene Fragen
Konflikte
Vorausdeutungen
Ziele der Figuren etc.
auslösen, habe ich bereits in dem Artikel „ Der perfekte Romananfang: Die ersten acht Sekunden und der erste Absatz“ beschrieben. Jetzt geht es allein darum, wie man den Leser mit Empathie in eine solche Erregung versetzt.
2. Was bedeutet Empathie für Ihre Erzähltechnik?
„Wer auf die Veröffentlichung seines Werkes Wert legt, ist gut beraten, eine Szene an den Anfang zu stellen, die sich der Leser plastisch vorstellen kann“, schreibt Sol Stein in „Über das Schreiben“.
Hätte Stephen King lediglich erklärt, dass Carrie im Duschraum „gedemütigt“ oder „verletzt“ wurde, hätte er ihre Gefühle beschrieben und interpretiert.
Mit Interpretationen blockieren Sie die Spiegelneuronen, reißen den Leser aus dem Empfinden und katapultieren ihn direkt in eine Art analytisches Leseverhalten, das auf ganz anderen Bewusstseins-Kanälen spielt als Spiegelneuronen.
„Erzählen“ Sie dem Leser deshalb nicht über eine Zusammenfassung, dass sich Ihr Held gerade beim Zwiebelhacken schneidet, und interpretieren Sie es auch nicht.
„Zeigen“ Sie es ihm durch eindeutige Handlungen und Szenen. Machen Sie es für ihn sichtbar, als würde vor ihm ein Kinofilm ablaufen. Denn das Bildhafte des Erzählten erzeugt Empathie.
Es ist einer der Gründe, weshalb das „Show, don't tell“ heute so entscheidend für Ihren Erfolg als Autor ist.
Es gibt ein Zitat, das sinngemäß lautet: „Erzähle dem Leser nicht, dass es regnet. Gib ihm das Gefühl, dass er klatschnass wird.“
Das Erzeugen von Bildern im Kopf Ihrer Leser, das „Kopf-Kino“, ist also nichts anderes als ein weiterer, tougher Sekundenkleber, der den Leser emotional sehr schnell und intensiv an das Schicksal Ihres Helden „klebt“.
3. Was brauchen Figuren, um Empathie zu ermöglichen?
Empathie können sie nur durch einen „Fehler im System“ Ihrer Figur aktivieren.
Was meint das?
Menschen fühlen niemals mit den Starken, den Klugen, den ewigen Gewinnern mit. Leser sympathisieren erst mit einer Hauptfigur, wenn die Idylle den Bach runtergeht und sie zum Beispiel
Schwächen oder Fehler zeigt
ein Manko/ Defizit besitzt
Verluste erlitten hat
bedroht wird
verzweifelt ist und Ähnliches.
Da erst docken Leser an: an den Schwächen, den Defiziten und Verlusten, die unbedingt ausgeglichen werden müssen. Die Schwächen, Verluste und Defizite triggern uns genau dort, wo unsere eigenen verborgenen Schmerzen und Ängste sitzen. Erst unsere eigenen Erfahrungen ermöglichen Empathie - und genau mit diesem Wissen arbeiten Autoren.
Deshalb zum Beispiel schreibt Elizabeth George in „Wort für Wort“, dass sie einer Figur sofort eine Schwäche hinzufügt, sobald sie ihr eine bestimmte Stärke zugewiesen hat.
Deshalb wird ein Typ mit toller Familie, hochdotiertem Job, zauberhaften Kindern etc. auch erst interessant für den Leser und das Erzeugen von Empathie, wenn der Autor ihm diese Leerstellen verpasst.
Wenn das Kind stirbt oder die Frau; er den Job verliert oder selbst verunglückt. Ja, er ist selbst dann interessant, wenn er seinen Absturz selbst verschuldet: durch Spielleidenschaft, heimliche Liebschaften, Drogen.
Er muss nur möglichst schnell raus aus seiner glücksstrotzenden Komfortzone – und schon haben Sie die mitfühlende Aufmerksamkeit des Lesers. Und wenn Sie es klug anstellen, erzeugen Sie über das „Kopf-Kino“ bereits auf den ersten Seiten Empathie für Ihre Figur.
4. Wie machen erfolgreiche Autoren das?
Tom Rob Smith beginnt seinen Bestseller „44“ mit einem Prolog, in dem das Geschehen wie ein Film vor uns abläuft und er den verbürgten Hungertod von Millionen personifiziert.
Smith erzählt dabei von einem Tag im Januar 1933 in der Ukraine. Jenem Tag, an dem „Maria beschlossen hatte zu sterben“. Weshalb? Weil die Hungersnot das ganze Land im Griff hat, weil im eisigen Winter die letzten Samenkörner gegessen sind, die letzten Katzen gejagt, die letzten Ratten verspeist – und Maria nur noch am Stuhlbein nagen kann.
Maria lässt ihre letzte treue Freundin frei, ihre bislang versteckte Katze – und der elfjährige Pavel, ausgehungert wie alle im Dorf, macht sich mit seinem achtjährigen Bruder auf den Weg, diese Katze für sich und seine Familie zu fangen.
Er wird nie zurückkommen. Er wird sterben. Ermordet von einem Kannibalen, der nicht die Katze, sondern den Jungen verspeisen will.
Das Grauen über die Verzweiflung der hungernden Menschen während des berühmten Hungerwinters 1932/33, dem Millionen zum Opfer fielen, bricht einem das Herz angesichts des personifizierten Leids dieser Kinder.
Donna Tartt erzählt uns auf den ersten zwei Seiten des Prologs von „Die geheime Geschichte“, dass der Jugendfreund des Ich-Erzählers, Bunny, tot ist, dass sein Verschwinden zunächst die größte Suchaktion des FBI auslöste und dass der Plan der überlebenden vier Freunde trotz aller Widrigkeiten funktionierte.
Dass der Ich-Erzähler teilweise für die Tat verantwortlich ist, während der Suche über den verschneiten Schauplatz spazierte und nun, Jahre später, weiß, dass er den Ort dieses Verbrechens niemals wirklich verlassen hat – und Bunnys Tod sein ganzes Leben beherrscht.
Weshalb interessiert uns diese Geschichte?
Nun gut, da gibt es einen Toten und vier Freunde, die dafür verantwortlich sind. Fragen über Fragen, die sich der Leser stellt wie in jedem Krimi.
Das Furiose aber ist zum einen, dass Tartt trotz ihrer Zusammenfassung der Ereignisse von damals bereits auf der ersten Seite immer wieder in knappen Sätzen plastische Szenen einbaut, so dass wir die Ereignisse „sehen“ können.
Zum anderen ist es der Ich-Erzähler, der so normal zu sein scheint wie wir alle. Nichts Zynisches, nichts Bösartiges schimmert da auf. Nichts Wichtigtuerisches, nichts Cooles.
Was auf den ersten zwei Seiten aufglänzt ist eine abgrundtiefe Verzweiflung, eine bedrückende Einsamkeit und die Sehnsucht, niemals an diesem Ort gewesen zu sein.
Mit dieser Strategie hat Donna Tartt uns emotional eingefangen: Wahrscheinlich war noch nie jemand von uns für den Tod eines anderen Menschen verantwortlich, aber wir alle haben schon etwas getan, das einem anderen geschadet hat.
Würden wir es gerne rückgängig machen? Die meisten wohl schon.
Kennen wir Verzweiflung? Wer nicht? Wer war nicht schon mal verzweifelt, weil die große Liebe uns links liegen ließ? Weil wir vielleicht einen Job verloren haben etc.
Genau diese „Schwachstellen“ Verzweiflung und Einsamkeit, die wir alle in der einen oder anderen Form erlebt haben, binden uns von Beginn an emotional an den Ich-Erzähler. Wir wissen genau, wie er sich fühlt, so dass wir in ihn hineinkriechen und ganz bei ihm sind.
5. Vermeiden Sie Stereotype und Klischees
Wenn Sie Empathie erzeugen möchten, müssen Sie Stereotype wie die kühle Blonde mit den blauen Augen oder den großen dunkelhaarigen Lover mit den feucht schimmernden braunen Augen vermeiden. Sie sind ebenso ungeeignet wie das Klischee vom dicken, französischen Koch mit dem großen Herzen und dem Gemüt eines Elefanten.
Weshalb? Weil sie kein individuelles Bild im Leser erzeugen - oder sehen Sie gerade eins vor sich? Nein? Ich auch nicht.
Sie sind nichtssagend, flach, ausgelutscht, in ihren Aktionen und Reaktionen vorhersagbar – und erzeugen keine Gefühle beim Leser.
Nun lesen Sie aber, dass Angelina Jolie sich von Brad Pitt getrennt hat. Was passiert? Sie sehen beide sofort vor sich – egal, ob sie sie mögen oder nicht. Sie haben ein Bild. Und erst damit können Sie emotional auf diese Nachricht reagieren, egal, in welche Richtung sich Ihre Emotionen bewegen.
6. Geben Sie Ihren Figuren einen komplexen Tiefencharakter -- und vergessen Sie exzentrische Hobbys
In Facebook-Foren fragen Autoren immer mal wieder nach interessanten Hobbys, die sie ihren Figuren geben können. Das ist erzähltechnisch häufig eine Sackgasse und hilft Figuren zumeist nur scheinbar und oberflächlich, an Originalität zu gewinnen.
Der Siegeszug von Bridget Jones („Schokolade zum Frühstück“) begann in den Neunzigern, weil sie zu klein, zu moppelig, zu tollpatschig und viel zu naiv für die coolen Jungs in den chicen Anzügen war, um nicht ausgenutzt zu werden -- und doch nichts mehr wollte als eben einen coolen Mann. Die dafür ständig weniger essen, weniger trinken und weniger rauchen wollte – ständig an den Vorsätzen scheiterte und ständig in unhaltbare Situationen schlitterte.
Weshalb eroberte diese 35-Jährige damals Millionen Leserinnen weltweit?
Weil sie eine komplexe, lebendige Protagonistin war,
die vollgestopft mit Minderwertigkeitskomplexen durchs Leben marschierte,
kontrolliert von ihrer Mutter, die nur das Beste wollte
bemitleidet von Verwandten,
auf die Nase fallend mit dem betrügerischen Lover.
Und die durch ihre Defizite und Wünsche so normal war wie alle ihre Leserinnen auch, weshalb sie sich mit ihr identifizierten und ihr mit Spaß und Empathie durch ihre desaströse Mann-Suche folgten. Und natürlich, weil sie durch ihre Naivität so urkomisch war.
Hat sie ein exzentrisches Hobby? Nein.
Hat sie exzentrische Ansichten? Nein.
Hat sie ein exzentrisches Ziel? Nein.
Dennoch ist Bridget Jones
ein sorgsam komponiertes Original,
eine komplexe, einzigartige, unverwechselbare Persönlichkeit mit Macken und Fehlern,
eingebettet in ein ebenso komplexes, sorgsam entwickeltes personelles Umfeld
Und diese sorgsam entwickelte Komplexität sowohl der Figur als auch des Umfelds macht Figuren lebendig, originell -- und zur perfekten Projektionsfläche für Empathie.
7. Müssen Hauptfiguren gut sein, um Empathie zu erzeugen?
Nein, müssen sie nicht. Einer der berühmtesten Mörder der Literaturgeschichte gastiert seit über 400 Jahren auf den Bühnen dieser Welt. Sein Name? Hamlet
Hamlet ist ein Mörder. Machen Sie sich nichts vor. Doch weshalb fiebern Zuschauer seit Jahrhunderten mit ihm mit?
Weil er ein unschuldiger Student ist, der nach dem Tod seines Vaters an einen intrigenverseuchten Hof kommt – und feststellen muss, dass sein Vater ermordet wurde und der Mörder nun sein Stiefvater ist.
Weil er bei seinem Mordauftrag zögert und zaudert. Weil er eine Figur voller Sehnsucht nach Liebe und voller Selbstzweifel ist – und weil uns das allen selbst in die Wiege gelegt wurde und wir uns so sehr wünschen, Hamlet wäre nie zurückgekommen.
Und weil wir bestürzt zusehen, wie dieser unschuldige Student Schritt für Schritt und aus Liebe zu seinem Vater zu jemanden wird, der mit Vorsatz mordet.
Diesen furiosen Trick der Selbstzweifel und der Sehnsucht nach Liebe hat Nabokov -- neben ein paar anderen Tricks -- in „Lolita“ benutzt, um seinen Pädophilen und Mörder Humbert Humbert mit einem komplexen Tiefencharakter auszurüsten.
Mario Puzo macht in „Der Pate“ Ähnliches. Michael Corleone steigt trotz seiner Verachtung für die Mafia nur aus einem Grund zum mächtigsten New Norker Paten auf: aus Liebe zu seiner Familie.
Um diese Familie zu schützen, wird dieser einst ehrenhafte Weltkriegsveteran zum Mörder und schließlich sogar die Order erteilen, den eigenen Schwager hinzurichten -- und damit seinen moralischen Niedergang unumkehrbar machen. Wir sehen seinem Aufstieg zu und diametral seinem moralischen Niedergang.
Vielleicht ging es Ihnen beim Lesen von "Der Pate" wie mir? Ich habe immer mal wieder gedacht: Nein, tu das nicht. Hau ab. Rette dich.
Das ist Empathie in Aktion, und Autoren wie Donna Tartt, Mario Puzo, Dennis Lehane, Wladimir Nabokov, Jojo Moyes, Philipp Roth, Charles Dickens, Mark Twain -- und wie sie alle heißen --, erzeugen sie in uns. Dafür danke.
Herzlich
Ihre Mika Bechtheim
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