Zum Schreiben von Romanen existieren keine "Regeln". Es gibt lediglich bewährte Erzählstrategien und erzählerische Mittel. Die sollte man als Autor kennen. Alles andere zwingt Ihre Kreativität in ein Korsett

1. Mythos Schreibregeln
Es gibt verbindliche Regeln zur Grammatik und zur Orthographie. In diesem Sinn gibt es keine Regeln zum Schreiben von Romanen. Ebensowenig wie es in der seriösen Literaturwissenschaft eine verbindliche Definition „des Romans“ gibt, weshalb Abhandlungen über Romane eben immer Abhandlungen und keine knackigen Definitionen sind. Die gibt es lediglich für Fabeln, Short Stories, Novellen und dergleichen. Und für jede „Romanregel“, die irgendjemand in den Untiefen des Netzes formuliert, kann ein versierter Leser sofort zehn Gegenbeispiele anführen.
Es gibt bestimmte Erzählkonventionen (Absätze in Dialogen z.B.), es gibt bewährte Erzählstrategien und erzählerische Mittel, die bestimmte Wirkungen erzielen. Mehr existiert nicht.
Selbst die Amerikaner, die eine lange Tradition des "Creative Writing" haben, sprechen zumeist nicht von Regeln (und wenn, dann erklären sie, dass die nicht in Stein gemeißelt sind), sondern viele „Creative Writing“- Lehrer schreiben meistens sehr praxisbezogen von Handwerkszeug und Werkzeugen, was m. E. wesentlich exakter ist. Deutsche machen dann schnell Regeln draus – und zurren damit etwas zu einer Verbindlichkeit fest, das so nicht existiert.
Ich verstehe, dass sich Autoren da mit Grausen abwenden. Ich persönlich versuche in meinen Blogs und Kursen, bewährte Strategien und Werkzeuge vorzustellen. Was Sie als Autor mit diesen Werkzeugen machen, ist Ihre Sache.
2. Erzählstrategien und erzählerische Mittel
Tausendfach von anderen Autoren erprobt, sind Erzählstrategien und erzählerische Mittel aus den Erfahrungen gewonnene Empfehlungen, um beim Leser etwas auszulösen. Allein deshalb sollten sie zum Handwerkszeug des Autors gehören – und am besten von ihm ausprobiert werden.
Es gibt universell geltende Strategien für das Erzählen spannender Geschichten, die sich zu allen Zeiten in allen Kulturen bewährt haben, und es gibt konkrete Erzählstrategien, die sich mit der Entwicklung von Kultur, Technik und Wissenschaft, dem Aufkommen von Großstädten zum Beispiel, dem Kino oder dem Internet geändert haben – so, wie sich auch das Leseverhalten geändert hat und weiter ändert.
Ohne Großstädte z. B. kein Dos Passos' „Manhattan“ (erster Episodenroman), ohne Psychoanalyse kein James Joyce' „Ulysses“ (Bewusstseinsstrom). Ohne die rasante Entwicklung zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf allen Gebieten gäbe es weder Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ noch Döblins „Berlin Alexanderplatz“, noch Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“. All diese Romane haben die bis dahin geltende, „klassische“ Romanstruktur gesprengt und zählen heute zu den Klassikern der Weltliteratur. Das wäre mit strikten „Regeln“ nie geschehen.
3. Von unsinnigen Schreibregeln und Forderungen im Internet
Inzwischen kursieren im Internet einige ziemlich sinnfreie sogenannte „Schreibregeln“, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden, nichtsdestotrotz aber von so manchem Laien-Lektor oder Schreibcoach zum nächsten transportiert werden und in ihrem Unfehlbarkeitsanspruch schlicht falsch sind.
Beispiele aus dem Netz:
"Schreib keinen Prolog": Der größte Unfug. Es gibt sehr gute dramaturgische Gründe, es zu tun, und preisgekrönte Gegenwartsautoren wie Donna Tartt ( hat zwei ihrer drei Romane mit Prolog ausgestattet), Dennis Lehane („Mystic River“ hat ca. 60 Seiten Prolog), Harlan Coben, Tom Rob Smith u.a. benutzen ihn – und das mit Recht.
"Gib deinen Romanabschnitten (Anfang, Mitte, Ende) das Längenverhältnis 1–2–1". Was für eine absurde Forderung. Das Längenverhältnis 1–2–1 kommt aus der Filmdramaturgie und hat als „Regel“ im Roman nichts, aber auch gar nichts zu suchen. Oder wollen Sie bei jedem 600-Seiten-Roman ernsthaft 150 Seiten Exposition lesen? Richtig ist: Es gibt keine Regeln für die Länge einzelner Romanabschnitte. Und das ist gut so. Alles andere ist Bullshit und hätte dieselbe desaströse Wirkung wie die Forderung, jedes Ölbild müsse das Format 90 cm x 150 cm haben.
"Benutze nie mehr als ein Adjektiv": Das ist als Imperativ Nonsens erster Güte. Und es nutzt auch nichts, sich dabei auf den „Stil-Papst“ Rolf Schneider zu beziehen. Der Mann kommt aus dem Journalismus. Das Problem in der Literatur sind nicht die Adjektive, sondern der allzu nachlässige Umgang mit ihnen und die Faulheit von Autoren und auch Lektoren, nach Alternativen zu suchen, wenn die sinnvoll sind. Nobelpreisträger benutzen Adjektive ebenso gekonnt, sinnlich oder bildhaft („das weiche, weiße, warme Fleisch“, Saul Bellow, um die Schenkel seiner Frau zu „versinnlichen“) wie Pulitzerpreisträger („hochglänzend, elegant und nervös wie ein Rennpferd“, Donna Tartt).
"Ändere den Wert einer Figur in jeder Szene diametral": von glücklich zu unglücklich, von betrübt zu euphorisch, von aufgeregt zu ruhig etc. Auch diese Forderung kommt aus der Filmdramaturgie und ist nur begrenzt auf Romane übertragbar. Ohne die Veränderung des „Wertes glücklich“ zum Beispiel gibt es keine Entwicklung von Figuren, damit keinen Spannungsbogen etc. Ist klar. Aber: In Romanen haben Sie viel mehr Zeit, deshalb können Sie diese emotionale Veränderung der Figur natürlich wesentlich entspannter angehen und sich diesem Diktat eines diametralen Wandels innerhalb einer Szene entziehen. Behalten Sie es dennoch im Kopf, sonst geht es Ihnen wie einer Selfpublisherin, deren Figur auf fünf Seiten nur einen Zustand kennt: „Er lachte.“ (etwa sechs Mal benutzt). So etwas ist dilettantisch und sollte tatsächlich geändert werden.
"Fange nie mit dem Wetter an": Wer kolportiert so etwas allen Ernstes? Das Problem ist auch hier lediglich die Schreibqualität des Autors, nicht das Thema. Wenn Sie mit dem Wetter beginnen, müssen Sie einfach nur wissen, wie Sie es als Autor clever als Bestandteil der Handlung integrieren und zum Beispiel zur Beschreibung für die Befindlichkeit einer Figur nutzen.
Wenn ich mir dergleichen sogenannte „Regeln“ ansehe, dann versteh ich sehr gut, weshalb manche Autoren von Regeln nichts wissen wollen.
Dennoch: Es gibt Erzählstrategien und jede Menge Werkzeuge, die Ihrem Schreiben dienlich und nützlich sein können.
Wenn Sie die beherrschen, dann wird es Ihr Talent zum Blühen bringen. Und es wäre schade, wenn Sie sie nicht benutzen können, weil Sie sie nicht kennen.
Doch hüten Sie sich vor festgezurrten Regeln und strikten Forderungen. Die pressen Ihr Schreiben in ein Korsett – und das hat mit Kunst und Kreativität nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Herzlich
Ihre
Mika Bechtheim
#Erzählstrategien #Schreibregeln #Romaneschreiben #Autor #Kreativität #Erzählkonventionen #Handwerkszeug #CreativeWrting