Charakterzüge, Figurenmerkmale und Selbstbild der Hauptfigur als Matrix für ihre Aktionen und Reaktionen

Die Kunst des Figurenpuzzles
Wenn Sie eine Hauptfigur entwerfen, sollten Sie sich immer daran erinnern, dass Leser emotional berührt werden möchten. Und dafür brauchen sie Figuren, die ihnen irgendwann so nah und vertraut sind wie der beste Freund.
Damit Ihnen das gelingt, sollten Sie sich möglichst früh um die Innenwelt Ihrer Figuren kümmern und das meint:
Beobachten Sie die Reaktionen Ihrer Figuren auf bestimmte Ereignisse und Erlebnisse, die sich aus dem Umfeld, dem Äußeren und aus der Entwicklung der Hauptfigur von selbst und also organisch ergeben.
Reaktionen ergeben sich aus den universellen Charakterzügen (hilfsbereit, geizig, launisch, skrupellos, vergesslich, ungeduldig, sensibel, zivilisationsmüde),
aus besonderen Figurenmerkmalen (stürzt sich auf jede Frau, als sei sie die letzte ihrer Art; versteckt seine Aggressionen hinter passivem Verhalten; ist zu klein, zu pummelig, zu unscheinbar; stottert)
und aus der Einzigartigkeit und Tiefe, die entsteht, wenn Sie das alles kombinieren.
Erst aus dieser Einzigartigkeit erwächst ein besonderes, ein einzigartiges Reagieren und Verhalten der Figuren. Und dadurch wiederum ein einzigartiger Roman.
„Léon - Der Profi“
Vielleicht erinnern Sie sich noch an Jean Renos Mafia-Killer in „Léon - Der Profi“, dem die zwölfjährige Mathilda in die Wohnung flattert, während nebenan korrupte Polizisten ihre Familie inklusive des kleinen Bruders töten.
Léon wird nach einigem Zögern für den Rest des Films alles tun, um dieses Mädchen zu retten, ihr für ihren eigenen Rachefeldzug das Schießen beizubringen -- und um ihr das Rauchen abzugewöhnen.
In Luc Bessons Mafia-Thriller agieren beide Hauptfiguren zwar in einer cool abgefilmten, actiongeladenen Handlung, dennoch ist der Film ein ganz und gar klassisch inszenierter Genre-Thriller.
Allein die Figurenkonstellation „einsamer Killer und pubertierende 12-Jährige mit Killer-Ambitionen“ sprengt alles, was wir bis dahin in einem Gangster-Film gesehen haben.
Sehen wir uns den von Jean Reno intensiv gespielten Auftragskiller Léon näher an:
Léon
Typische, universelle Charakterzüge:
Der Auftragskiller Léon besitzt die typischen Charakterzüge vieler gedungener Mörder:
er ist ein Einzelgänger und Perfektionist
er tötet kalt, logisch, effizient
er kennt weder Skrupel - sonst würde er nicht für Geld töten - noch Moral außer: „Keine Kinder, keine Frauen“
Einzigartige Merkmale
Darüber hinaus hat er etwas Einzigartiges:
er kümmert sich rührend und pedantisch um einen wurzellosen Kaktus, den er auch unter Einsatz seines Lebens aus der Wohnung rettet
er ist Analphabet
er trinkt keinen Alkohol, dafür Milch
Was erzählt uns das über ihn auf einer psychischen Ebene?
Was erzählt uns der Kaktus?
Leon möchte sich gern für etwas verantwortlich fühlen, hat aber nur diesen stachligen Kaktus, der so wurzellos ist wie er selbst. Allein diesem Kaktus kann er all seine Fürsorge und Liebe entgegenbringen.
Was erzählt uns die Milch?
Nun, es gibt nichts Asketischeres und Unschuldigeres, als im Mafia-Gewerbe weiße, reine Milch zu trinken, wie wir es alle in unserer Kindheit tun mussten.
Was ist mit dem Analphabetismus?
Fragen Sie sich mal, wie verletzbar ein Mensch ist, der in heutiger Zeit weder lesen noch schreiben kann.
Fragen Sie sich, wie sehr er in der Schule gelitten haben muss, welche Strategien er bereits dort entwickelt hat, um das zu verbergen.
Und was er alles tut, um dieses Geheimnis in der Gegenwart vor seinen Mafia-Kumpeln zu verbergen.
Und fragen Sie sich, wie tief diese Scham sitzt, wie sehr er sich für diesen Makel vor sich selbst schämt.
Vor allem aber:
Lèon wäre kein Analphabet, wenn sich jemals jemand um ihn gekümmert und ihn geliebt hätte.
Mit anderen Worten:
Léon ist zwar ein Killer, aber er ist auch ein einsamer großer Junge, der noch nie Liebe erfahren hat.
Was bedeuten diese Charakterzüge und Merkmale für den Roman/Film?
Erführe der Zuschauer nicht, dass der Profi-Killer Léon etwas zutiefst Einsames, etwas zutiefst Verletzbares, etwas zutiefst Fürsorgliches hat, wäre die Geschichte des Films tot.
Léon - Der romantische Killer
Erst durch diese Mischung aus universellen Killer-Charaktereigenschaften und seinen einzigartigen Merkmalen wird der Charakter zu einer unvergesslichen Figur mit ungewöhnlichen und überraschenden Aktionen und Reaktionen: nämlich zu einem der konsequentesten Romantiker unter den sattsam bekannten, skrupellosen Mafia-Killern.
Wie wirkt das auf den Zuschauer? Wie wirkt das als Romanfigur auf den Leser?
Wir sind gebannt. Wir mögen Profi-Killer verachten und verurteilen und dennoch kann sich der Zuschauer/Leser nur schwer Léons Faszination entziehen und bangt mit ihm und Mathilda mit.
Psychologisches Profil und Story
Um uns dem psychologischen Profil der Hauptfigur und der daraus erwachsenden Geschichte zu nähern, stellen wir ein paar Fragen, auf die jeder Autor eindeutige Antworten geben sollte, bevor er losschreibt.
Im dem Wissen um die spezifischen Eigenschaften Léons beantworten wir mal stellvertretend ein paar wesentliche Fragen zu ihm:
Léon
1. Was ist der leidenschaftliche Wunsch, das zentrale Verlangen der Figur Léon, die den gesamten Film trägt und aus seinem Charakter erwächst?
Nach anfänglichem Zögern will Léon Mathilda retten und den Tod ihrer Familie rächen.
2. Was bedeutet das für die Prämisse des Films/Romans, die der Autor während des Schreibens im Auge behalten sollte?
Prämisse:
Einsamer Analphabet und Profi-Killer rettet 12-Jährige vor korrupten Polizisten und rächt den Mord an ihrer Familie.
(Hauptfigur + Konflikt + Ziel der Handlung)
3. Was würde die Figur Léon nie jemandem anvertrauen? Was verheimlicht Léon also vor anderen?
1. Dass er alles tun würde, um lesen und schreiben zu können.
2. Dass er sich schämt, weil er Analphabet ist.
4. Was gesteht Léon sich selbst niemals ein? Was verheimlicht er also vor sich selbst?
1. Dass er noch nie in seinem Leben Liebe erfahren hat und sich nach Liebe sehnt.
2. Dass er einsam ist.
5. Was könnte in der Story geschehen, damit Léons Geheimnis entdeckt wird?
Ein 12-jähriges Mädchen schneit auf der Flucht vor korrupten Cop-Killern in sein Leben.
6. Was geschieht, wenn jemand das Geheimnis der Figur errät oder die Hauptfigur es einer anderen anvertraut?
Im Fall von Léon und Mathilda bietet sie ihm einen Deal an: sie bringt ihm Lesen und Schreiben bei, wenn er ihr das Schießen beibringt -- und genau diesen Deal schließen die beiden ab.
Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Um eine Figur und die Dramaturgie einer Story in ihrer ganzen Komplexität zu erschaffen und zu verstehen, müssen Sie immer an den Ursprung der Figur zurück und in ihr tiefstes Innere hinabsteigen.
Nur auf diese Weise können Sie glaubwürdige Beweggründe und Motive entwickeln und innere und äußere Konflikte ans Licht bringen, die die Handlung vorantreiben werden -- vor allem aber Spannung und eine originelle Dynamik in der Handlung erzeugen.
Dazu müssen Sie kein Psychologe sein, aber Sie müssen unbedingt verstehen, weshalb Figuren sagen, was sie sagen, und tun, was sie tun. Mit anderen Worten: Sie sollten auch das Selbstbild der Figur kennen.
Selbstbild von Figuren
Wenn Sie einen Tischler fragen:
Wer bist du?,
dann kann er verschiedene Antworten geben:
Einer antwortet: Ich bin Tischler, der andere: Ich bin verheiratet und Vater von zwei Kindern.
Jede dieser Antworten beschreibt einen komplett anderen Charakter, führt zu prinzipiell anderen Handlungen und damit zu unterschiedlichen Storys.
Zwar haben beide denselben Beruf, aber eine andere Sicht aufs Leben, andere Prioritäten und damit in bestimmten Stresssituationen andere Gefühle und Verhaltensweisen.
Ihre unterschiedlichen Antworten haben mit dem Selbstbild der Figur zu tun und werden die Handlung ganz unterschiedlich vorantreiben.
Beispiel Tischler:
Stellen Sie sich vor, der Chef seiner Tischlerei ruft am Freitagabend seinen angestellten Tischler an und sagt:
Bis Montag, neun Uhr, müssen alle für das Projekt X von uns gebauten Fenster geschliffen und lackiert sein.
Und stellen Sie sich vor, dass dieser Chef seinem Tischler mit einem ähnlichen Ansinnen in den letzten Wochen schon zwei Mal das Wochenende verdorben hat.
1. Der eine Tischler wird vielleicht sagen: Klar, kein Problem, und hofft nun, dass er dadurch endlich eine Gehaltserhöhung bekommt.
Nun kann er mit seiner Unersetzlichkeit vor seiner Frau angeben. Die aber ist schon länger genervt und setzt ihn endgültig vor die Tür. Das wäre eine Geschichte.
Er kann aber auch ein schlechtes Gewissen haben und seine Frau am Freitagabend als Entschuldigung zum Essen ausführen -- und dabei auf der Heimfahrt jemanden anfahren und Fahrerflucht begehen, weil er es eilig hat und nachts noch zwei Fenster lackieren will. Das wäre eine komplett andere Geschichte.
2. Der zweite Tischler kann sagen:
Nein, geht nicht, ich hab den Kindern und meiner Frau versprochen, mit ihnen an die Nordsee zu fahren.
Und wiederum haben sie mehrere Möglichkeiten, unterschiedliche Gefühle und Reaktionen aufzurufen -- je nach Charakter.
Der Neinsager kann nun das ganze Wochenende ein schlechtes Gewissen gegenüber der Firma haben, reizbar sein und ungeduldig mit den Kindern, so dass der pubertierende 14-Jährige endgültig die Nase voll von seinem Vater hat, ein paar Sachen packt, Papas Portemonnaie ausräumt und spurlos verschwindet.
Oder er kann sich toll fühlen, weil er endlich den Mut hatte, Nein zu sagen, ein traumhaftes Wochenende erleben und dem Chef am Montag statt der lackierten Fenster die Kündigung präsentieren.
Was auch immer Ihnen einfällt, Ausgangspunkt dazu war das Selbstbild der Figur - und auch das sollten Sie erkunden und unbedingt kennen.
Wie Konflikte und bewusste und unbewusste Motive Ihrer Figuren die Handlung bestimmen und ihren Zielen auch zuwiderlaufen, das erfahren Sie in Teil 3.
Herzlich
Ihre
Mika Bechtheim
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